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Die dünne Schnur, die den
Schuhkarton aus Mutters Vitrine zusammenhielt, war fest
verknotet. Unter den vielen alten Fotos fand ich eins von der
Straße in der ich aufgewachsen bin. – Meine klingende Straße,
sagte ich immer. Mutter lachte, wenn ich in jedem Geräusch eine
Melodie zu hören glaubte. Kleine Träumerin hatte sie mich
genannt. - Je länger ich nun das Bild betrachte, um so mehr
beginnt es zu leben. Plötzlich klingt Pferdegetrappel an mein
Ohr. Schon an der Gangart konnte ich erkennen, welches Fuhrwerk
gerade die Straße herunter kam. Das kleine zierliche Pferd des
Lumpenmanns hatte einen tänzelnden Gang. Der Klang seiner Hufe
auf dem Straßenpflaster war wie das leise Aufeinanderschlagen
von Kastagnetten. Um so lauter war die Stimme des Kutschers,
wenn er rief: "Luuuumpen, Luuuumpen!"
Viele bunte Windräder
drehten sich an seinem Karren. Wenn er auf der Flöte seine
Melodie spielte, liefen wir Kinder hinterher und sangen: Lumpen,
Knochen, Eisen und Papier, ausgehauene Zähne sammeln wir
Dann war da das Fuhrwerk der
König-Brauerei. Das wurde von zwei besonders dicken Pferden mit
langen Mähnen und Zotteln an den Beinen gezogen. Sie wirkten
behäbig, gemütlich, und so war auch ihr Gang, tacke, tacke,
tacke, schloften sie dahin. Diese kräftigen Pferde habe ich mir
besonders oft und eingehend betrachtet. Ich wollte unbedingt
herausfinden, weshalb mein Vater von der Nachbarin, Frau Pielke,
immer sagte, sie habe einen Hintern wie ein Braue-reipferd.
Dann gab es den Eismann, der die
Leute mit Roheis belieferte. Sein Pferd zog das rechte
Hinterbein nach. Es hatte wohl Rheuma von der feuchten Kälte im
Rücken. Den Eismann nannten alle „Goebbels“, weil er auch einen
Klumpfuß hatte, wie Goebbels der Propagandaminister. „Goebbels“
hinterließ überall seine feuchte Spur - weil sein Eis tropfte.
Sein lautes „Brrrr“ war wie das Knurren eines bissigen Hundes.
Wenn er den Eishaken in die durchsichtigen Stangen schlug, um
sie auf die Schulter ziehen zu können, splitterten kleine Stücke
ab, auf die wir Kinder uns stürzten, um sie zu lutschen. Mit
Vorliebe steckten die Jungs sie den Mädchen in die Blusen, dann
gab’s Gekreische. Meistens ging „Goebbels“ in die Kneipe an der
Ecke. Vorher band er dem Pferd einen Sack voll Hafer vor das
Maul. Aber nach Stunden stand das Pferd, das Maul immer noch im
Sack, traurig im Eiswasser. Die Stangen auf dem Wagen waren so
dünn geworden, wie die Glasbaumeln am Kron-leuchter meiner
Großmutter.
Kam „Goebbels“ dann aus der Kneipe, grölte und
schimpfte er. Vater sagte dann: das gleiche Großmaul wie der da
oben. Dabei zeigte er mit dem Daumen immer in eine bestimmte
Richtung. Natürlich meinte er den Propagandaminister, von dem
behauptet wurde, dass sein Klumpfuß gar kein Klumpfuß sei,
sondern das Versteck für die Batterie seiner großen Schnauze.
Jeden Morgen um die gleiche Zeit
kam der Milchmann Klinkenberg in unsere Straße. Der hatte zwar
auch einen Klumpfuß, aber der war echt. Der Milchmann war ein
freundlicher Mann. Schon von weitem rief die Glocke, die an der
Seite seines Fuhrwerks befestigt war, die Leute mit ihren
Milchtöpfen aus den Häusern. Es war jedes Mal ein Vergnügen
zuzusehen, wie er das Litermaß in die große Kanne tauchte, ganz
lässig über den Rand der Kanne einen Topf nach dem anderen
füllte, ohne das Maß heraus zu heben. Danach klinkte er es am
Innenrand wieder ein, so wie ein Cowboys aus dem wilden Westen,
der seinen Colt aus dem Gürteln zieht, lässig aus der Hüfte
schießt und ihn wieder im Gürtel verschwinden läßt. Ich liebte
den Geruch der frischen Milch, aber noch mehr die schlanken
rehbraunen Pferde die vor dem Wagen gespannt waren. Wenn sie
angetrabt kamen, klang das wirklich wie eine Melodie ...
In unserer Straße roch es immer
nach Pferdeäpfel - nach braunen warmen Pferdeäpfeln die im
Winter richtig dampften, und auf die sich die Spatzen setzten
wie an einen reichgedeckten Tisch. Frau Pielke war im Frühjahr
ganz scharf auf den Pferdemist. Sie brauchte ihn als Dünger für
ihre Erdbeerbeete. „Aber warm müsse se soi, damit’s Pflänzle
ebbes wird“, ermahnte sie mich, wenn ich ihr einen Eimer voll
brachte. Für die zehn Pfennige, die sie mir gab., kaufte ich an
der Bude bei der dicken Berta Salmiakpastillen. davon klebte
ich mir einem Stern auf den Hand-rücken und leckte so lange bis
er erloschen war.
An manchen Tagen marschierten in
breiter Kolonne die Hitlerjungen mit ihren Fanfaren durch die
Straße. Eine Hand in die Hüfte gestützt und mit der anderen das
Instrument in den Himmel gerichtet, bliesen sie aus vollen
Lungen. Da war sogar Herr Pielke, der als einziger in der
Straßen ein Automobil besaß, respektvoll am Straßenrand
stehengeblieben. Seine Brust blähte sich vor Stolz beim Anblick
der „Neuen Generation“. Manchmal marschierte auch er mit seinen
Parteigenossen. Dumpf klangen die Stiefel auf dem Pflaster im
Takt mit seinem „Links zwo drei vier!“ und dann kam sein
Kommando: „Ein Lied!“ Und die Männer in den braunen Uni-formen
sangen aus vollen Kehlen: „Die Fahne hoch die Reihen fest
geschlossen!“
„Jetzt schnappt Pielke über“,
hatte Vater eines Tages gesagt, „jetzt will er wohl Adolf Hitler
persönlich aussehen“. Und tatsächlich hatte sein Gesicht
Hitlerähnliche Merkmale bekommen. Sein glattes dunkles Haar war
in die Stirn gekämmt, und unter seiner Nase war ganz deutlich
der Ansatz einer Rotzbremse zu sehen.
Unsere Straße mündet in einen
langen Tunnel. Vom fünften Stock des großen roten
Backsteinhauses aus, in dem ich gewohnt hatte, erschien der
Tunnel wie ein großes Loch, in das alles hineinplumpste, was
sich darauf zu bewegte. Stand ich aber davor, war das Licht des
Tages erst wieder hinter einer kleinen runden Öffnung zu sehen,
so, als schaute ich durch die falsche Seite von Opas Fernglas.
Damals glaubte ich, die Bahnlinien der ganzen Welt führten über
den Tunnel hinweg.
Abends, wenn ich aus dem Fenster schaute, war
das Bahngelände ein großes Lichtermeer. Ich hörte das Quietschen
der rangierenden Züge, das laute Tuuuuut, wenn sie ihren heißen
Dampf in den Himmel pusteten, das immer schneller werdende Tsch,
Tsch, Tsch, Tsch, wenn sie sich in Bewegung setzten und das
Geräusch der vorbeirasenden Züge - das sich näherte, anschwoll
und wieder verhallte. Und mit jedem Zug träumte ich mich in die
Ferne.
Irgendwann begannen die Männer in den braunen Uniformen
öfter zu marschieren. Sie traten fester entschlossener auf. Und
manchmal, wenn ich gerade eine Schaufel geholt hatte, um für
Frau Pielke Pferdemist aufzusammeln, lag er zertreten da. Sie
waren einfach drüber weg marschiert - ohne hinzusehen - immer
geradeaus - mit der ganzen Sauerei unter ihren Sohlen. Mir war
es noch einerlei wohin sie marschierten. Was wusste ich schon
von Aufrüstung, Mobilmachung und Krieg? Meine kindliche
Unbekümmertheit ließ mich weiter träumen - abends, wenn die
Geräusche zu mir aus dem Lichtermeer herüberkamen. Doch eines
Tages erloschen die Lichter. Die ersten Bomben fielen. Die Angst
ließ mir keine Zeit mehr zum
Träumen...
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