Einst und heute - Neudorf, ein Stadtteil mit Charme bietet:
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Bundesligafußball-Spielbetrieb - MSV-Arena - Sportschule - Sitz LSB und LVN -  Leichtathletikstadion UCI-Kino Teddybärenfabrik
Einst und heute
Meine Straße - Von Etti Ruhöfer
 

 

Die dünne Schnur, die den Schuhkarton aus Mutters Vitrine zusammenhielt, war fest verknotet. Unter den vielen alten Fotos fand ich eins von der Straße in der ich aufgewachsen bin. – Meine klingende Straße, sagte ich immer. Mutter lachte, wenn ich in jedem Geräusch eine Melodie zu hören glaubte. Kleine Träumerin hatte sie mich genannt. - Je länger ich nun das Bild betrachte, um so mehr beginnt es zu leben. Plötzlich klingt Pferdegetrappel an mein Ohr. Schon an der Gangart konnte ich erkennen, welches Fuhrwerk gerade die Straße herunter kam. Das kleine zierliche Pferd des Lumpenmanns hatte einen tänzelnden Gang. Der Klang seiner Hufe auf dem Straßenpflaster war wie das leise Aufeinanderschlagen von Kastagnetten. Um so lauter war die Stimme des Kutschers, wenn er rief: "Luuuumpen, Luuuumpen!"

Viele bunte Windräder drehten sich an seinem Karren. Wenn er auf der Flöte seine Melodie spielte, liefen wir Kinder hinterher und sangen: Lumpen, Knochen, Eisen und Papier, ausgehauene Zähne sammeln wir
 

Dann war da das Fuhrwerk der König-Brauerei. Das wurde von zwei besonders dicken Pferden mit langen Mähnen und Zotteln an den Beinen gezogen. Sie wirkten behäbig, gemütlich, und so war auch ihr Gang, tacke, tacke, tacke, schloften sie dahin. Diese kräftigen Pferde habe ich mir besonders oft und eingehend betrachtet. Ich wollte unbedingt herausfinden, weshalb mein Vater von der Nachbarin, Frau Pielke, immer sagte, sie habe einen Hintern wie ein Braue-reipferd.

Dann gab es den Eismann, der die Leute mit Roheis belieferte. Sein Pferd zog das rechte Hinterbein nach. Es hatte wohl Rheuma von der feuchten Kälte im Rücken. Den Eismann nannten alle „Goebbels“, weil er auch einen Klumpfuß hatte, wie Goebbels der Propagandaminister. „Goebbels“ hinterließ überall seine feuchte Spur - weil sein Eis tropfte. Sein lautes „Brrrr“ war wie das Knurren eines bissigen Hundes. Wenn er den Eishaken in die durchsichtigen Stangen schlug, um sie auf die Schulter ziehen zu können, splitterten kleine Stücke ab, auf die wir Kinder uns stürzten, um sie zu lutschen. Mit Vorliebe steckten die Jungs sie den Mädchen in die Blusen, dann gab’s Gekreische. Meistens ging „Goebbels“ in die Kneipe an der Ecke. Vorher band er dem Pferd einen Sack voll Hafer vor das Maul. Aber nach Stunden stand das Pferd, das Maul immer noch im Sack, traurig im Eiswasser. Die Stangen auf dem Wagen waren so dünn geworden, wie die Glasbaumeln am Kron-leuchter meiner Großmutter.
Kam „Goebbels“ dann aus der Kneipe, grölte und schimpfte er. Vater sagte dann: das gleiche Großmaul wie der da oben. Dabei zeigte er mit dem Daumen immer in eine bestimmte Richtung. Natürlich meinte er den Propagandaminister, von dem behauptet wurde, dass sein Klumpfuß gar kein Klumpfuß sei, sondern das Versteck für die Batterie seiner großen Schnauze.

Jeden Morgen um die gleiche Zeit kam der Milchmann Klinkenberg in unsere Straße. Der hatte zwar auch einen Klumpfuß, aber der war echt. Der Milchmann war ein freundlicher Mann. Schon von weitem rief die Glocke, die an der Seite seines Fuhrwerks befestigt war, die Leute mit ihren Milchtöpfen aus den Häusern. Es war jedes Mal ein Vergnügen zuzusehen, wie er das Litermaß in die große Kanne tauchte, ganz lässig über den Rand der Kanne einen Topf nach dem anderen füllte, ohne das Maß heraus zu heben. Danach klinkte er es am Innenrand wieder ein, so wie ein Cowboys aus dem wilden Westen, der  seinen Colt aus dem Gürteln zieht, lässig aus der Hüfte schießt und ihn wieder im Gürtel verschwinden läßt. Ich liebte den Geruch der frischen Milch, aber noch mehr die schlanken rehbraunen Pferde die vor dem Wagen gespannt waren. Wenn sie angetrabt kamen, klang das wirklich wie eine Melodie ...
 

In unserer Straße roch es immer nach Pferdeäpfel - nach braunen warmen Pferdeäpfeln die im Winter richtig dampften, und auf die sich die Spatzen setzten wie an einen reichgedeckten Tisch. Frau Pielke war im Frühjahr ganz scharf auf den Pferdemist. Sie brauchte ihn als Dünger für ihre Erdbeerbeete. „Aber warm müsse se soi, damit’s Pflänzle ebbes wird“, ermahnte sie mich, wenn ich ihr einen Eimer voll brachte. Für die zehn Pfennige, die sie mir gab., kaufte ich an der Bude bei der dicken Berta Salmiakpastillen. davon klebte  ich mir einem Stern auf den Hand-rücken und leckte so lange bis er erloschen war.
 

An manchen Tagen marschierten in breiter Kolonne die Hitlerjungen mit ihren Fanfaren durch die Straße. Eine Hand in die Hüfte gestützt und mit der anderen das Instrument in den Himmel gerichtet, bliesen sie aus vollen Lungen. Da war sogar Herr Pielke, der als einziger in der Straßen ein Automobil besaß, respektvoll am Straßenrand stehengeblieben. Seine Brust blähte sich vor Stolz beim Anblick der „Neuen Generation“. Manchmal marschierte auch er mit seinen Parteigenossen. Dumpf klangen die Stiefel auf dem Pflaster im Takt mit seinem „Links zwo drei vier!“ und dann kam sein Kommando: „Ein Lied!“ Und die Männer in den braunen Uni-formen sangen aus vollen Kehlen: „Die Fahne hoch die Reihen fest geschlossen!“

„Jetzt schnappt Pielke über“, hatte Vater eines Tages gesagt, „jetzt will er wohl Adolf Hitler persönlich aussehen“. Und tatsächlich hatte sein Gesicht Hitlerähnliche Merkmale bekommen. Sein glattes dunkles Haar war in die Stirn gekämmt, und unter seiner Nase war ganz deutlich der Ansatz einer Rotzbremse zu sehen.
 

Unsere Straße mündet in einen langen Tunnel. Vom fünften Stock des großen roten Backsteinhauses aus, in dem ich gewohnt hatte, erschien der Tunnel wie ein großes Loch, in das alles hineinplumpste, was sich darauf zu bewegte. Stand ich aber davor, war das Licht des Tages erst wieder hinter einer kleinen runden Öffnung zu sehen, so, als schaute ich durch die falsche Seite von Opas Fernglas. Damals glaubte ich, die Bahnlinien der ganzen Welt führten über den Tunnel hinweg.

Abends, wenn ich aus dem Fenster schaute, war das Bahngelände ein großes Lichtermeer. Ich hörte das Quietschen der rangierenden Züge, das laute Tuuuuut, wenn sie ihren heißen Dampf in den Himmel pusteten, das immer schneller werdende Tsch, Tsch, Tsch, Tsch, wenn sie sich in Bewegung setzten und das Geräusch der vorbeirasenden Züge - das sich näherte, anschwoll und wieder verhallte. Und mit jedem Zug träumte ich mich in die Ferne.
Irgendwann begannen die Männer in den braunen Uniformen öfter zu marschieren. Sie traten fester entschlossener auf. Und manchmal, wenn ich gerade eine Schaufel geholt hatte, um für Frau Pielke Pferdemist aufzusammeln, lag er zertreten da. Sie waren einfach drüber weg marschiert - ohne hinzusehen - immer geradeaus - mit der ganzen Sauerei unter ihren Sohlen. Mir war es noch einerlei wohin sie marschierten. Was wusste ich schon von Aufrüstung, Mobilmachung und Krieg? Meine kindliche Unbekümmertheit ließ mich weiter träumen - abends, wenn die Geräusche zu mir aus dem Lichtermeer herüberkamen. Doch eines Tages erloschen die Lichter. Die ersten Bomben fielen. Die Angst ließ mir keine Zeit mehr zum Träumen...